Wollen wir als Deutschland überhaupt beim ESC gewinnen? Wollen das die Zuschauer? Will das die ARD? Will das die Musikindustrie?

Nach den bereits 8 feststehenden Finalisten des deutschen ESC-Vorentscheids und dem gestrigen Abend, bei dem es eine Wildcard dafür zu gewinnen gab, lautet die Antwort:

NEIN!

Ist das nur meine Meinung?

Auf der offiziellen Facebookseite des deutschen ESCs liest man haufenweise Kommentare wie:

„Die ganze Sendung war absolut schrecklich vom Anfang bis zum Schluss … ich habe immer wieder gehofft aus diesem Albtraum zu erwachen.“

„Ich habe jetzt shirt geplant mit Freunden    Alle Jahre wieder    Letzter Platz“

„Ich bin entsetzt! Er trifft ja kaum die Töne, was ist denn da los? (…) braucht noch viel Übung und vor allem Technik, gerade in der Kopfstimme.“

Gemeint ist Floryan, der Gewinner der Wildcard zur Teilnahme am offiziellen deutschen Vorentscheid des ESCs. Oder wie ich es lieber formuliere, der Gewinner des Holzklassentickets. In der TV-Show gestern Abend ging es nämlich lediglich darum, wer neben den bereits gesetzten Musikern auch noch beim deutschen ESC-Vorentscheid dabei sein darf am 16.02.2024 um 22.05 Uhr in Berlin mit Barbara Schöneberger.

Talent reicht für den ESC 2024 nicht

Was man ebenfalls aus den Kommentaren heraus liest: Viele Zuschauer haben das System der Vorauswahl nicht verstanden. Mir ging es offen gesagt auch erst so. Mehr dazu in diesem Blog.

Einige glauben, Floryan wäre bereits der Kandidat, der für Deutschland am 11. Mai 2024 in Malmö auf der ESC-Bühne steht. Tatsächlich ist es (noch) nicht so. Ich hoffe innig, dass es dabei bleibt. Man mag Floryan nicht absprechen, dass er ein talentierter Sänger ist. Aber Talent reicht nicht. Der ESC ist keine Probebühne, weder für die Musikindustrie, um unbekannte Talente zu pushen, die man so kosteneffektiv in Deutschland bekannt machen kann, noch für Laiensänger und Künstler, deren Aufregung auf der Bühne dazu führt, dass sie etliche Töne nicht treffen. Und das ist leider nicht nur Floryan gestern Abend passiert.

Bitte nicht falsch verstehen. Ich bin kein Monster, ich besitze sehr viel Empathie und kann die Situation exakt nachvollziehen. Wie oft ging mir die Pumpe als Moderatorin! Gerade zu Beginn konnte ich damit gar nicht umgehen. Und ja, ich habe genau deshalb auch schlecht performt. Aber: Ich habe mich nicht um einen Platz im Kader der Olympischen Spiele beworben.

Sänger Floryan singt seinen Song Scars
Sänger Floryan singt seinen Song Scars

Der ESC wird behandelt wie eine Kreisliga

Jeder Profisportler arbeitet sein ganzes Leben auf die Teilnahme bei den Olympischen Spielen hin. Im grundsätzlichen Umgang mit dem ESC in Deutschland hat man nicht das Gefühl, dass überhaupt verstanden wurde, auf welchem Level wir uns hier bewegen. Der ESC ist keine Kreisliga. Es sind die Olympischen Spiele des Musikbusiness, für Kultur und für ein nationales Lebensgefühl.

Der ESC ist die größte Bühne der Welt

Es geht um die größte Musikshow der Welt! Es ist die größte Bühne der Welt.

Und gestern war sie noch nicht einmal groß. Das Casting-Finale für das Ticket zum deutschen ESC-Vorentscheid wurde nur im NDR und der ARD-Mediathek live gezeigt. Gefühlt nice Clubatmosphäre. Was ist, wenn 10,5 Mio. Menschen aus Deutschland glotzen, wie im letzten Jahr? Und bis zu 200 Mio. Menschen weltweit??

Kapiert das endlich mal jemand?

200 Millionen Menschen!

Sorry Leute, aber kann man da ein Hinterhofcasting und 'ne Kuschelshow veranstalten? Was wir wirklich brauchen, ist eine knallharte und wirklich unbeugsame Castingshow, die nur ein einziges Ziel verfolgt:

Sieg!

Gestern Abend standen 3 von 4 Finalisten des Castings von 693 Teilnehmern auf der Bühne. Teilnehmerin Bibiane Z ist krankheitsbedingt ausgefallen. Nachnominiert wurde niemand. Geht ja um nix. So stieg die Wahrscheinlichkeit für Anne Im, Luca M. Wefes und Floryan auf 33,33333 Prozent für die Teilnahme beim deutschen ESC-Vorentscheid. Sie und 690 andere eingegangene Bewerber haben zuvor das gefühlte Garagen-Casting mit Kuschel-Vibe durchlaufen, soft angelehnt an DSDS und The Voice. Nur ohne viel Trubel. Geht ja um nichts.

Sofa Vibes uai
Gemütlich: Kandidaten sitzen in heimeliger Wohnzimmeratmosphäre beisammen

Dieses System kann keinen ESC-Gewinner produzieren!

Was wir brauchen, ist ein knallharter Wettbewerb, dem sich unbekannte und auch professionelle Künstler stellen müssen, anstatt durch das Beziehungsnetzwerk der Musikindustrie fast automatisch ins Finale des deutschen ESC-Vorentscheids zu rutschen. Das ist nicht gerechtfertigt für so eine Show und darüber müssen wir das nächste Mal dringend reden!

Ich sage es gerne noch einmal, falls es wer nicht verstanden hat: ESC bedeutet bis zu 200 Mio. Zuschauer weltweit – die größte Bühne der Welt – der größte Songwettbewerb der Welt und internationale Bekanntheit! Sollte dafür nicht auch ein professioneller Künstler riskieren, dass sein Song gerade nur fürs deutsche Radio reicht?

German Angst

Ist der Preis eines Siegs beim ESC so gering, dass man dafür nichts riskieren kann? Ist der Preis eines Siegs beim ESC so gering, dass die ARD kein großes und medienwirksames Casting produzieren kann und für den finalen Künstler, der Deutschland als Nation vor 200 Millionen Menschen in der Welt vertritt eine richtig große und spektakuläre Show zaubert? Stattdessen bleibt man sich dem Motto treu: gekauft wie gesehen.

Gekauft wie gesehen

Der Künstler wird wie beim Vorentscheid auf die ESC-Bühne gestellt und dann macht der schon. Performance? Braucht man nicht. Show? Gibt’s nicht. Inszenierung? Was ist das?

Vermutlich ist der Topf durch die hohe Produktionsbeteiligung an der Austragung des ESCs schon leer. Bezahlt wird das mit der automatischen Finalteilnahme Deutschlands beim ESC. Was uns wirklich guttun würde, einen wirklich harten Auswahlprozess aka GNTM (ohne Gefängnis und insistierten Zoff natürlich) und in eine Bühnenshow, die die Welt umhaut. Klar, hier ist ohne Moos nichts los. Man braucht die Besten der Besten in allen Bereichen.

Ziel: Sieg beim ESC

Das wäre dann tatsächlich die allererste Castingshow im deutschen Fernsehen, die einen internationalen Superstar produzieren würde! Das funktioniert in Deutschland nicht? Ich verrate euch jetzt mal was: Die Casting-Formate DSDS und The Voice haben daran kein Interesse, weil sie keinen Nutzen daraus ziehen. Die Show ist nach Bekanntgabe des Siegers vorbei. Bis dahin besteht das primäre Ziel darin, die Show möglichst lange zu ziehen, die Zuschauer an das Format zu binden, Content zu produzieren, der online gut klickt, um wie auch im TV möglichst viele Werbeeinnahmen zu generieren. Das Ziel dieser Shows ist es nicht einen Superstar zu produzieren. Der weitere Aufbau des Künstlers wäre viel zu teuer.

Einen ESC-Sieger kann nur die ARD produzieren

Daher kann eigentlich nur ein öffentlich-rechtlicher Sender einen echten internationalen Superstar mit einer Casting-Show produzieren. Auch hier gibt es natürlich den Content-Druck, aber es besteht nicht der primäre Druck hohe Werbeeinnahmen zu produzieren, sodass die Redaktion und Jury indirekt oder direkt zu kontroversen Entscheidungen gezwungen werden, die online viel Aufregung und Empörung erzeugen und damit wiederum gut klicken. 😉

Am besten ihr teilt fleißig den Artikel, vielleicht liest ihn ja jemand der Verantwortlichen. 😉

Beim nächsten Mal schauen wir noch ein Stückchen mehr hinter die Kulissen und den Verstrickungen der Musikindustrie in den Eurovision Song Contest.