Ich verstehe jeden, der keinen Bock mehr auf den ESC hat. Ehrlich. Ich bin ESC-Fan und kann und will es jedoch nicht akzeptieren, dass wir ständig die Looser des größten Musikwettbewerbs der Welt sind.

Der deutsche Vorentscheid zum ESC findet am 16. Februar 2024 um 22.05 Uhr in Berlin statt. 1 Tag also noch und mir graut es davor. Nicht weil Barbara Schöneberger moderiert. Ich habe sie bereits 2x live erlebt und finde sie absolut genial. Die Songs – Katastrophe. Sorry. Meine Einschätzung kannst du hier im Blog lesen: Katze als Geheimwaffe. Dort erfährst du auch, wer mein Favorit ist. 😉

Das Auswahlverfahren für den deutschen ESC-Vorentscheid ist unverständlich

Es ist zum Verzweifeln, und das Auswahlverfahren für den ESC-Vorentscheid macht es nicht besser. Bis zum 05.10.2023 konnten sich Künstler und Bands bis max. 6 Personen für den ESC auf eurovision.de bewerben. Ein eigener Song war dafür keine Voraussetzung, nur Gesangstalent. Klingt fair. 693 vollständige Bewerbungen hat der NDR erhalten, von denen sogar 83 Prozent der Künstler einen eigenen Song mitlieferten. Das ist stark!

Bis hierhin ist das Auswahlverfahren für den deutschen ESC-Teilnehmer 2024 in Malmö, Schweden, simpel und nachvollziehbar. Jetzt wird es kompliziert und so richtig verstehe ich es immer noch nicht, obwohl ich mich jetzt schon länger damit beschäftige.

Insgesamt gibt es neun Plätze. Acht wurden direkt vergeben. Die Direktnominierungen hat lt. eurovision.de die ESC-Redaktion des NDRs vergeben, sowie Mitarbeiter der Produktionsfirma Bildergarten Entertainment, die die Show produziert. „Zusätzlich wurden internationale Musik-Experten zur Bewertung hinzugezogen. (…) Es handelt sich um internationale ESC-Kenner, erfolgreiche Komponisten, Produzenten und Vocal Coaches.“

Für das letzte Ticket musste sich eine Auswahl an verbliebenen Künstlern einem harten Wettbewerb und dem Zuschauer-Voting stellen.

Warum unterliegen nicht alle dem harten Wettbewerb und dem Zuschauer-Voting? Warum gibt’s 8 Tickets für die First Class und dann noch eins für die Holzklasse?

First-Class Tickets und eins für die Holzklasse

Ich habe mir einmal die Mühe gemacht und von allen Teilnehmern des deutschen ESC-Vorentscheids die Plattenfirmen herausgesucht:

  • Ninetynine “Love on a budget”: keine Plattenfirma
  • Leona “Undream you”: Warner Music Central Europe
  • Isaak “Always on the run”: Good Kid Records & Polydor x Island Records / Universal Music Group Deutschland
  • Galant “Katze”: keine Plattenfirma
  • Floryan “Scars”: keine Plattenfirma, ist durch das Zuschauervoting in den Vorentscheid gekommen
  • Bodine Monet “Tears like rain”: Warner Music Central Europe
  • Ryk “Oh boy”: Welthund Music
  • Marie Reim “Naiv”: Ariola / Sony Music Entertainment Germany
  • Max Mutzke “Forever strong”: Wanderlust Recordings

Mein Ergebnis: 6 von 8 gesetzten Songs haben einen Vertrag mit einem Musiklabel oder sogar noch zusätzlich eine große Plattenfirma im Rücken. Das sind ¾ der Direktnominierungen. Laut der ESC-Regeln ist alles rechtens und zunächst kein Problem. Jedoch fragt man sich, nach welchen Kriterien die Künstler für den deutschen ESC-Vorentscheid ausgewählt wurden? Das erfährt man leider in den Fragen und Antworten auf eurovision.de nicht.

Die Musikindustrie fingert beim deutschen ESC-Vorentscheid mit

Fakt ist: Die Musikbranche ist klein. Man existiert durch ein wertvolles Netzwerk. ESC-Kenner, erfolgreiche Komponisten, … Produzenten. Natürlich haben all diese Personen Kontakte zu den kleinen als auch den Big Playern wie Warner, Ariola oder Sony Music. Namen der Vorabjury wurden leider nicht genannt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sie für die Plattenfirmen jedoch Songs produzieren und auch Aufträge von ihnen erhalten.

Sind diese Experten unabhängig? Man kann es sich denken... Mir erscheint die hohe Quote von 75 % der Künstler mit Direktticket UND Plattenvertrag nicht als Zufall.

Plattenfirmen schicken keine Top-Künstler zum ESC

Welchen Vorteil hätten die Plattenfirmen dadurch? Ihre Top-Künstler schicken Plattenfirmen auf gar keinen Fall ins Rennen zum ESC. Die Fallhöhe wäre zu groß, das Risiko, den Künstler zu verbrennen, zu hoch – sämtliche Investitionen mit einem einzigen Auftritt futsch. Ob beim deutschen Vorentscheid oder später beim ESC in Malmö.

Der deutsche ESC-Vorentscheid eignet sich für Labels und Plattenfirmen aber perfekt, um bisher unbekannte Künstler oder Künstler die mal etwas Wind gebrauchen können, zu pushen: wie Max Mutzke. Die Bühne ist groß, der ESC immer noch eine große Marke. Ein schlechtes Abschneiden im Wettbewerb dieser Künstler ist kein großes Desaster für die Plattenfirma und für den Künstler selbst.

In der BWL bewegen sie sich am Beginn des Produktlebenszyklus oder haben ihren Zenit längst überschritten. Diese Acts kosten, aber werfen nichts oder nicht viel ab. Sie können nur gewinnen: Bekanntheit, Erfahrungen, Presse, Klicks – dank der großen medialen Plattform des ESC. Der ESC ist ein Markenzeichen. Zu verlieren gibt’s fast gar nichts. Im schlimmsten Fall ein Abschreibeobjekt der Plattenfirma, bei dem die Kosten überschaubar waren.

Plattenfirmen haben kein Interesse am Sieg beim ESC

Ich erkenne an der Vorauswahl der Songs, dass bei Plattenfirmen an einem Sieg beim ESC von Deutschland kein wirkliches Interesse besteht. Das mag paradox klingen, weil sie im Fall des Sieges natürlich enorm profitieren würden und ihr Künstler über Nacht zur Cashcow mutieren würde. Aber seien wir ehrlich. Wie hoch ist die Chance? Profitieren würden Plattenfirmen ja durch den deutschen ESC-Vorentscheid auch so. Wozu das Risiko? Ich behaupte sogar, dass die Produktmanager der Plattenfirmen ganz genau wissen, dass das Potenzial bei ihren Künstlern für einen Sieg beim ESC überhaupt nicht vorhanden ist. Sie spannen den ESC lediglich für ihre Interessen ein, um ihren noch nicht bzw. weniger profitablen Künstlern einen Push zu geben.

Interesse besteht m. E. lediglich an dem deutschen Markt und an der großen medialen deutschlandweiten Plattform, die einem mit dem Eurovision Song Contest geboten wird, um Künstler und Song einem Massenpublikum oder neuen Zielgruppen bekannt zu machen.

Der ESC sorgt für kostenlose Klicks und Presse

Normalerweise muss ein Label dafür ein fettes Marketing- und PR-Budget bereitstellen und mit sehr viel Aufwand versuchen, bei Presse, Radio- und TV-Sendern einen Fuß in die Tür zu bekommen, damit neue Künstler interviewt werden oder der Song es in die Playlist schafft.

Mit einer direkten Nominierung für den deutschen ESC-Vorentscheid entfällt dieser aufwendige Schritt und spart pures Geld. Die Tür öffnet sich ganz alleine: Der Song wird wenigstens 1x gespielt, es wird mindestens 1x über den Song gesprochen, auch wenn er sich nicht in der Rotation des Radiosenders befindet.

Da der deutsche ESC-Vorentscheid und die ESC-Übertragung von der ARD veranstaltet werden, ist es für die zugehörigen Sender auch obligatorisch, über den ESC-Vorentscheid zu berichten. Ist ja nicht schlimm und keine Kritik. Viele private Sender werden den deutschen ESC-Vorentscheid ebenfalls thematisieren. Auf Youtube gibt’s Kritiken, online zahlreiche Artikel, wie diesen hier … 😉 und Google rankt plötzlich die No-Name-Künstler weit oben. Ohne, dass zusätzliches Werbebudget in die Hand genommen werden muss. Die Plattenfirmen und deren Künstler gewinnen auf jeden Fall und der Profit ist auf ihrer Seite deutlich höher als auf der Seite der ARD bzw. des NDRs.

Die Rechnung geht nur für eine Seite auf

Sicherlich hat der NDR das letzte Wort bei der Entscheidung über die Direkttickets. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die Redaktion dafür gesorgt hat, dass auch zwei Songs ohne Plattenvertrag direkt nominiert werden. Jedoch pflegen auch Musikredakteure in den Medien und Mitarbeiter einer Plattenfirma oft beste Beziehungen. Man kennt sich über die Jahre hinweg. Niemand gibt freiwillig so einen raren Job auf … das nur als Randnotiz.

Der Profit der Plattenfirmen geht sogar noch weiter. Für Scouts und Produzenten bieten 693 vollständig eingereichte Bewerbungen einen Pool mit potenziellen neuen Künstlern, die man sich ohnehin alle ansehen muss und aus dem man ganz einfach fischen kann. Ein Casting nicht nur für den ESC, sondern auch für sich selbst. Na, wenn das mal keine tolle Rechnung ist!

Vom derzeitigen deutschen ESC-Vorentscheid profitieren daher nicht der NDR, die Zuschauer des ESCs oder Deutschland als Nation, sondern lediglich die Plattenfirmen und ihre Künstler mit jeder Menge kostenloser Promotion, Radioplays, Klicks, Steigerung der Bekanntheit sowie Erschließung neuer Zielgruppen und Übererfüllung ihrer Marketingziele. Das quasi fast zum Nulltarif.

Wie der Künstler am Ende im Vergleich zu den anderen Teilnehmerländern in Malmö beim ESC abschneidet, ist für eine Plattenfirma vorerst uninteressant, denn ihre Cashcows, die deutlich größeren und erfolgreicheren Stars, verbrennen sie für den ESC jedenfalls nicht. Man setzt nicht auf das riskante Aktienportfolio, sondern auf die sichere Bank des Sparkontos mit 1,5 % Zinsen. Typisch deutsch eben … 🙂

Das wirft Fragen auf, die Antworten benötigen. Ich werde beim NDR nachhaken, ob dieses System des deutschen ESC-Vorentscheids wirklich zielführend für einen Sieg in Malmö ist. Das Interesse daran scheint nicht bei allen Akteuren vorhanden zu sein.